In den Spiegel schaute Liam seit einigen Wochen nur noch
sehr ungern, doch es ließ sich nie ganz vermeiden. Man spiegelte sich an den
verschiedensten Gegenständen und Oberflächen, wobei er stets das Gefühl hatte,
es könne wieder geschehen. Aber das war es nicht.
Auf der Scheibe der U-Bahn konnte er sich selbst
schemenhaft aus den Augenwinkeln erkennen, traute sich jedoch nicht, genau
hinzusehen. Wahrscheinlich würde eh nichts geschehen. Liam zerknautschte den
Saum seines Sakkos, das er gleich morgen in die Reinigung bringen würde. Für
seinen Geschmack roch es zu sehr Alkohol und Bar, schließlich war er gerade aus
einer gekommen. Nicht aus einer, die er sonst frequentierte, um sich mit
Kollegen einen Absacker zu können und dabei zu fachsimpeln. Es war ein Ort
gewesen, an dem er durch seinen Anzug aufgefallen war wie eine faule Stelle in
einem Apfel. Für seine Zwecke hatte es gereicht.
Liam stieg aus der U-Bahn und schlenderte Heim, wobei der
Alkohol seinen Gang federnder als gewöhnlich machte. Wahrscheinlich, dachte er,
gibt es ein Wort für die Angst vor Spiegeln und sie ist ein erstes Anzeichen
von Wahnsinn.
In seiner Familie gab es einen bekannten Fall einer
schweren psychischen Störung, die sowohl alles als auch nichts umfasste. So
sehr auch mit Fachbegriffen um sich geworfen wurde, Onkel Carl war für die
Hälfte der Sippe schlicht wahnsinnig. Aber Liam war nicht Carl und hoffte, er
war nicht auf dem direkten Weg in die Verrücktheit – trotz Spiegelphobie.
An der Eingangstür sah er seine Reflexion, ebenso im
Fahrstuhl, doch er versuchte das zu ignorieren. Jetzt musste er nur noch in
seine Wohnung – der Schlüssel war leichtgängig wie eh und je – und den Rest des
Abends am besten mit einem No-Brainer hinter sich bringen. Eine DVD mit viel
Geballer, das wäre gut. Auf viel Plot wollte Liam sich nicht mehr
konzentrieren, das machte sein Gehirn gar nicht mit.
Zuerst wollte er – was seiner neuen Abneigung vollends
widersprach – kontrollieren, wie er aussah. Dieses allabendliche Ritual konnte
er einfach nicht aus seinem Alltag streichen, weil es ihm einen gewissen
Überblick verschaffte, was der Job mit ihm anstellte. Er legte das Sakko ab,
lockerte die Krawatte und verschwand ins Bad. Aus dem Spiegel guckte ihn ein
müder Endzwanziger an, dessen schmales Gesicht von einer dunklen Brille
beherrscht wurde. Ansonsten war alles in Ordnung. Er lächelte matt. Seine
Mutter hatte ihm früher oft gesagt, er solle Kontaktlinsen tragen, damit er
sich nicht hinter einem Kunststoffbalken verstecken konnte. Das tat Liam sogar,
wenn auch selten. Mit der Brille fühlte er sich einfach wohler, selbstbewusster,
da war er einfach eine Art Anti-Clark Kent. Die viele Arbeit am Monitor war mit
Brille sowieso viel entspannter als mit Linsen.
Gerade wollte Liam aus dem Bad verschwinden, als er etwas
hinter sich im Spiegel sah. Er drehte sich um, sah nichts, drehte sich zurück.
Ein kleines Licht schwebte über der linken Schulter seines Spiegel-Ichs, was
nur seiner Fantasie entsprungen sein konnte. Der Alkohol. Vielleicht schlechtes
Essen in der Kantine. Als könne er das Licht fassen, streckte er seine Hand
danach aus, die jedoch die Spiegeloberfläche traf.
In seinen Augen konnte er Verwirrung lesen – dann grinste
sein Spiegelbild, ohne dass er selbst es tat. Liam wich zwei Schritte zurück,
doch nicht im Spiegel, wo jemand, der aussah wie er, am selben Platz verharrte.
„Es hat funktioniert!“, sagte eine begeisterte Stimme
deutlich höher, als er sich seine eigene laut Aufzeichnungen vorstellte.
„Was?“ Er war Onkel Carl wohl ähnlich als erwartet, wenn
er schon begann, mit Hirngespinsten zu reden.
„Du musst mir helfen, Liam McKinley, ich weiß sonst
nicht, an wen ich mich wenden soll“, sagte die knabenhafte Stimme seines
Spiegel-Ichs, die ihn jünger wirken ließ.
„Woher… was bist du?“
Sein Spiegelbild krauste die Stirn und schaute sich
verunsichert um.
„Ich habe nicht viel Zeit, ehe sie mich finden…“
„Das erklärt nichts! Du brauchst angeblich Hilfe, dann
will ich auch wissen, worum es geht!“ Er ging wieder näher an den Spiegel
heran. „Also: Was bist du?“
Die Flunsch, die das Spiegelbild zog, wollte nicht recht
in sein Gesicht passen.
„Ein Spiegelwesen. Aber nicht deins. Mein Mensch wurde
getötet und zwar auf eine Weise, die mich beeinflusst. Deshalb musst du
herausfinden, wer es war, sonst komme ich niemals-“, das Spiegelbild stockte, „Ich
muss gehen, sie haben Unregelmäßigkeiten bemerkt.“
„Was… Warte!“ Wider besseren Wissen streckte Liam seine
Hand aus, um seinen Gesprächspartner aufzuhalten.
„Wir werden uns wiedersehen, keine Sorge. Jetzt muss ich
aber gehen.“
Er sah, wie das kleine Licht wieder über seiner Schulter
auftauchte.
„Wie heißt du?“, fragte er.
„Ich?“, das Spiegelbild guckte sich panisch um, „Fiona.“
Bei diesem Wort wurde das Licht hell genug, um Liam zu
blenden, sodass er die Augenreflexartig schloss. Als er sie wieder öffnete, war
alles, wie es sein sollte. Er zog einige Grimassen, die alle reflektiert
wurden. Langsam nahm er seine Brille ab und massierte seine Nasenwurzel.
„Fiona…“
Er wurde verrückt, das war es wohl. Die Arbeit verlangte
ihm zu viel ab. Da half erstmal nur ein Scotch mit Soda.
Mein erster Gedanke war: Mal was ganz anderes! Und dann, nach einigen Zeilen hab ich es doch irgendwie geahnt, dass da noch was kommen muss... dass das mit den Spiegeln noch eine tiefere Bedeutung haben würde. :D
AntwortenLöschenAuch, wenn es nur ein "kurzer" Beitrag ist, so hat dieser doch viel Aussagekraft und das Thema ist gut umgesetzt und die letzten Zeilen verpassen - zumindest mir - eine Gänsehaut.
Wahrscheinlich auch, weil meine Texte immer dieses Übernatürliche kriegen, da konnte er ja nicht einfach nur verrückt werden. XD
LöschenIch freue mich so, dass dieser Text endlich mal geklappt hat, denn eigentlich ist die Idee nicht neu. Muss von etwa 2013 sein. Die Worte kamen nur nie richtig zusammen.