Er schaute aus dem Fenster der kleinen Abtei, in die er
von der Geistlichen mitgenommen worden war. In den letzten Stunden hatte der
Regen unaufhörlich zugenommen, sodass er nun in voller Wucht vom Himmel
preschte. Läge das Fenster nicht unter dem Dachüberstand, könnte man gar nicht
hinausschauen. Auch so war nicht viel mehr als Sprühnebel zu erkennen.
Er schaute durch die Scheibe in Richtung Himmel, wo er
dunkle Wolken erahnen konnte, die aussahen, als wären sie auf einer Mission
unterwegs. Ob sie ihn wohl holen wollten? Ihn, der gar nicht mehr leben sollte.
Eigentlich glaubte er ja nicht an Zeichen, doch der Regen hatte erst begonnen,
als er aus der Wüstenstadt ausgebrochen war. Das konnte alles bedeuten – oder
ein dummer Zufall sein.
Da er sich in diesem Regen nur verirren würde, hatte er
vorhin das Angebot der Geistlichen angenommen, ein wenig zu verweilen. Es war
sein Plan gewesen, möglichst schnell wieder zu verschwinden, am besten gleich
nach dem ersten Tee. Oder auch davor, wenn es nicht zu unhöflich war. Doch die
Gelegenheit hatte sich nicht ergeben, weshalb er nun schon seit Stunden hier
unter den Weisen Frauen verweilte, die ihn weitgehend in Frieden ließen. Einzig
die junge Frau aus dem Wald blieb nicht auf Abstand, gerade so als wüsste sie
als einzige nicht wie unnatürlich sein Leben war. Woher sollten ihre Schwestern
es jedoch wissen? Er konnte für sie alle nur ein verwirrter Mann sein, der in
diesen Gemäuern Schutz vor dem grausigen Wetter gefunden hatte.
Nach einem leisen Türklopfen trat die Geistliche mit den
kurzen Haaren ein. Sie trug ein Tablett mit zwei Bechern, aus denen es dampfte.
Noch mehr Tee.
„Seid Ihr Novizin?“, fragte er, als sie die Tür schloss.
Sie lächelte schräge. „Ist das so offensichtlich? Ich
werde es vermutlich immer bleiben, wenn sich einige meiner Ansichten nicht
ändern. Ich bin meinen Schwestern ein Stück zu weltlich.“
„Die Begeisterung über Euren Gast hält sich also in
Grenzen, nehme ich an.“
„Nicht im Allgemeinen“, erwiderte sie, während sie die
Becher auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster abstellte, „aber großes
magisches Potential wird hier nicht nur
als Geschenk der Göttin gesehen.“
So sehr die Welt sich auch in all den Jahrzehnten
verändert hatte, gehörte er doch nicht dazu. Immer noch nicht.
„Nimmt man Euch übel, dass Ihr mich herbrachtet,
Schwester…“
„Kasia. Und: nein. Ich bot jemandem Hilfe an, der sie
benötigte. Schaut Euch nur diesen Sturm an! Darin wäret Ihr verloren gewesen.“
Er schaute wieder hinaus in den Sprühnebel. Man konnte
nur wenig schemenhaft erkennen, wie den dunklen Himmel. Ansonsten waren
hauptsächlich Schatten zu sehen, die sich schnell durch den Regen bewegten. Wie
Phantome auf der Jagd nach etwas.
„Wie darf ich Euch nennen, mein Herr?“
Früher hätte er sich nicht gefragt, ob diese Schatten
herumfliegendes Geäst waren oder vielleicht doch Wesen, die nach ihm suchten.
„Nito. Mein Name ist Nito.“
In seiner Jugend war sein Name einst Nito gewesen, doch
er hatte ihn eine halbe Ewigkeit nicht gehört. Niemand, der ihn einst so
genannt hatte, war noch am Leben.
„Nito“, wiederholte Kasia lächelnd, „mögt Ihr mir etwas
über Euch erzählen, um uns die Zeit zu vertreiben?“
Sie setzte sich an den Tisch und nahm einen Becher Tee.
Nito betrachtete sie lange, ohne etwas zu sagen, wovon sie sich nicht stören
ließ. Inzwischen trug sie ein fliederfarbenes Kleid, das niemals außerhalb der
Mauern eines gesegneten Ortes getragen werden durfte, wie er wusste. Er verbarg
ihre Formen besser als das Gewand, das sie im Wald getragen hatte. Nicht, dass
er sich über die teils durch den Regen entstandenen Zurschaustellung ihrer
Rundungen beschwert hätte. Ein Teil des Mannes, der er einst gewesen war,
schlummerte einfach noch in ihm.
„Ich muss mich zuerst in aller Form für die
Gastfreundschaft bedanken, die Ihr mir zuteilwerden lasst. Und für die
Kleidung.“
Er hatte protestiert, er brauche keine trockenen Sachen,
doch in dem Fall hatte Kasia insistiert,
Sie trank einen tiefen Schluck aus ihrem Becher, wobei
sie ein spitzbübisches Lächeln nicht verbarg, das ihr ganzes Gesicht erhellte.
Fast wie bei ihr. Nitos Herz fühlte
sich plötzlich schwer an, als er wieder an sie
dachte.
„Das ist doch selbstverständlich von einer Weisen Frau.
Selbst von einer Novizin.“
„Obwohl Eure Schwester mir mit Argwohn begegnen?“
„Es irritiert sie, dass ich jemanden im Wald aufgelesen
habe, dessen Magie alles übersteigt, was uns bekannt ist. Und dann ist da noch
Eure Augenfarbe.“
Er griff unwillkürlich an seine Schläfe, als würde das
etwas an seinen hellen Augen ändern, die lila schimmerten.
„Sie waren früher blau“, sagte er leise.
„Aber das ist schon sehr viele Jahre her, oder?“
Der Sturm heulte besonders laut auf, während ein Blitz
die Dunkelheit erhellte. Als wäre die Natur ihm wirklich auf den Fersen. Nito
zählte die Sekunden bis zum Donner. Fünf. Die Abtei lag also fast im Zentrum
des plötzlichen Gewitters.
Fragend schaute er zu Kasia, die angesichts des Wetters
und ihres ungewöhnlichen Gasts vollkommen ruhig wirkte. Vorhin im Wald war sie
aufgeregter gewesen.
„Woher glaubt Ihr das zu wissen?“
Sie stellte den Becher ab, stand auf und griff Nitos
Hände. Ihre Finger waren warm, genau wie ihre Aura – vertraut, freundlich,
fragil – genau wie bei ihr.
Ein weiterer Blitz zuckte durch den Himmel, der Donner
folgte keinen Herzschlag später.
„So viel Magie…“, sagte Kasia wenig erleuchtend, „und ein
so trauriger Blick. Ich war mir sicher, die junge Frau im letzten Jahr habe von
Euch gesprochen.“
„Sie war hier?“
Etwas klirrte, doch das war weit weg von Nito, der noch
gar nicht richtig begriff, was gerade passierte.
Kasias Aufmerksamkeit galt kurz einem Ort außerhalb des
Raumes, während für Nito nichts Weiteres existierte. Nur ein Zimmer, eine Frau
und eine Erinnerung.
„Eine junge Dame war hier, ja. Sie erzählte von ihrem
besten Freund aus der Stadt, die sie zurückgelassen hatte. Groß, blond, helle
Augen. Ähnliches magisches Talent wie bei ihr. Sie war die mächtigste Magierin,
der ich je begegnet bin.“
„Sie war wohlauf?“
„Damals schon, aber ich kann nichts zu ihrem jetzigen
Zustand sagen. Ich bete zur Göttin, dass ihre Reise eine leichte ist.“
Natürlich konnte Kasia nichts wissen. Sie musste ganz am Anfang ihrer Reise
hier gewesen sein, so wie Nito. Trotzdem erleichterte ihn dieses neue Wissen.
„Ihr solltet Euch nicht zu sehr um Eure Freundin sorgen.
Sie ist von starkem Geist und sehr pfiffig.“
Das wusste er doch selbst. Er setzte zu einem Kommentar
an, als es erneut von irgendwo klirrte und schepperte. Kasia ließ seine kalten
Hände sofort los um zum Fenster zu gehen.
„Was ist geschehen?“, fragte Nito verwirrt.
„Es Fenster wurde eingeschlagen, schätze ich. Ich kann
nur nichts sehen.“
Ein Blitz. Ein Donnergrollen.
„Es ist das schlimmste Unwetter, das ich je erlebte.“
„Mir geht es ebenso“, murmelte er nachdenklich. Es musste
ein Zufall sein, dass das Wetter genau an diesem Tag so umgeschwungen war. Es
konnte keine Fügung sein.
„Wollt Ihr mir helfen zu schauen, ob alles in Ordnung
ist?“, fragte Kasia, die bereits zur Tür ging.
Nito folgte ihr auf den Gang, wo ihnen sofort einige
Weise Frauen begegneten, die besorgt miteinander tuschelten. Alle strebten in
dieselbe Richtung, in die Kasia und Nito sich auch aufmachten. Er konnte nicht
viel von dem verstehen, was die Weisen Frauen sagten, doch er glaubte zu
fühlen, dass es dabei auch um ihn ging. Als wäre seine Ankunft hier gekoppelt
mit dem Sturm ein schlechtes Omen.
Über den Gang wehte ein kalter Wind, der stärker wurde,
je näher sie einem Raum kamen, vor dem sich die meisten Schwestern aufhielten.
Nito warf einen Blick hinein. Wo einst eine Fensterscheibe gewesen war, klaffte
nun ein großes Loch, durch das ein Baum hereinragte. Einige Weise Frauen
versuchten etwas daran zu ändern, doch der peitschende Regen und Wind
erschwerten ihre Arbeit.
Nito wollte in den Raum gehen, wobei ihm immer wie
zufällig der Weg verstellt wurde. Er schaute verwirrt zu Kasia, deren Blick
sich verfinsterte. Sie griff ihn bei der Hand und drängelte sich zwischen ihren
protestierenden Schwestern hindurch.
„Ihr seid Magier“, rief sie gegen das Tosen von Wind und
Regen, „Könnt Ihr etwas tun?“
Und ob er das konnte!
Die Wassertropfen auf seiner Haut ließen die Energie in
seinem Körper tänzeln, seine Hände kribbeln. Er machte nur eine kleine Geste
mit seiner freien Hand, die sofort dazu führte, dass sich der hereinragende
Baum ein Stück nach oben bewegte. Eine zweite Geste war ebenso einfach gemacht,
obwohl hinter ihr mehr Kraft steckte, mit der er den Baum vom Gemäuer
wegdrückte. Danach errichtete Nito einen Schild aus Wasser, der das Eindringen
von weiteren Anzeichen des Sturms verhinderte.
Das war es, wozu er gemacht war. Er konnte richtig
fühlen, wie sich etwas in seinem Körper freudig aufbäumte, weil er seine
magischen Fähigkeiten genutzt hatte um mehr zu tun, als einen Patienten nach
Knochenbrüchen zu untersuchen.
Aber er bemerkte auch schnell die drückende Stille unter
den Weisen Frauen, die nun vorherrschte.
„Nito!“, rief Kasia aus, während sie die Arme um ihn
legte, „Das war großartig von Euch! Vielen Dank!“
Dass ihre Schwestern weit weniger von seiner Leistung und
ihrer Überschwänglichkeit angetan waren, wusste sie sicherlich selbst. Sie sah
nur nicht aus, als würde es sie kümmern, was ihrer Behauptung, ihre Ansichten
passten ihren Schwestern nicht, Nachdruck verlieh.
„Der Schild hält nicht ewig und ansonsten war das doch
selbstverständlich, immerhin wurde ich hier so freundlich aufgenommen.“
„Wäre es Euch möglich, einen Schild um die gesamte Abtei
zu errichten?“ Hoffnung schwang in ihrer Stimme, die Nito nicht gleich
zunichtemachen wollte. Sie könnte
bestimmt ohne Probleme einen solchen Zauber wirken, wenn sie sich die eigene Kraft nur endlich eingestand. Er hingegen war
deutlich schwächer, auch nach den vielen Jahren, die er in der Wüstenstadt
verbracht hatte.
„Ich werde mein Bestes geben.“
Schnell zog Kasia ihn aus dem Raum und führte ihn – wieder an der Hand – aus dem Gebäude. Die
Ausgangstür ließ sich kaum öffnen, so sehr drückte der Sturm dagegen.
Nito spürte Schmerzen in der Brust, kaum war er aus dem
Gebäude getreten, und blieb deswegen stehen. Dieses Stechen hatte er in den
vergangenen Stunden so gut verdrängt, dass es ihn mit voller Wucht traf. In der
Abtei hatte er es nicht gespürt. Weil diese ein Haus der Göttin war?
„Ihr seht blass aus“, rief Kasia ihm zu, um gegen den
Sturm anzukommen. „Sollen wir wieder hineingehen?“
Er schüttelte den Kopf. Aufgeben war keine Option. Sollte
dieser Wetterumschwung tatsächlich seinetwegen geschehen sein, musste er auch
etwas dagegen unternehmen.
Er stellte sich ein paar Schritte von Kasia entfernt hin
und streckte seine magischen Finger aus, um das Gebäude in seiner Gesamtheit zu
erfassen. Gar nicht so groß, da könnte sein Werk gelingen.
Seine Brust schmerzte und unter den Regen auf seiner Haut
mischte sich Schweiß von der Anstrengung, die ihm allein das Stehen bereitete.
Er musste nur noch diesen Zauber wirken, das konnte so schwer nicht sein.
Die Magie tänzelte unter seiner Haut und er wollte sie
hinauslassen, doch ein heftiger Schmerz, der seinen gesamten Oberkörper
durchzog, zwang ihn in die Knie.
„Nito!“ Kasia war schon an seiner Seite, um ihn aufrecht
zu halten. Aber er merkte, dass er nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben
würde, er war lange genug für die Kranken zuständig gewesen.
Schmerzschmerzschmerz.
„Wir gehen wieder hinein, in Ordnung? Dort ruht Ihr euch
aus, Nito.“
Sie wiederholte seinen Namen wohl, damit er ihr auch
zuhörte. Aber der Name war eine Lüge wie so vieles in seinem Leben. Mit letzter
Kraft zog er sich zu Kasia hoch.
„Mein… Name… Er ist-“
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