Casey freute sich viel zu sehr über die Zuckerwatte in
ihren Händen, um sich am Gedränge zu stören, das zu jedem Hafengeburtstag
gehörte. Selbst zu Zeiten des Schmutzigen Krieges hatten die Hamburger es sich
nicht nehmen lassen, nur diese wenigen Tage im Mai der Unbeschwertheit zu
frönen. Damals waren die Feierlichkeiten von Protesten gegen den Krieg
begleitet gewesen. Inzwischen hielten sich am Rande der Veranstaltung
Demonstranten mit „Free Germany“-Schildern auf, die die Autonomie ihres eigenen
Staates forderten.
Doch all das konnte Casey gut verdrängen. Eine Hand
umfasste den Stiel ihrer großen, fluffigen Zuckerwatte, während die andere von
Ludwig gehalten wurde. Somit war für den Moment alles perfekt.
„Ich kann gar nicht glauben, dass wir noch nie zusammen
hier waren“, sagte sie, wodurch sie ihm ein kurzes Lachen entlockte.
„Jemand wollte ja nie“, sagte er.
Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, der von ihm
mit einem weiteren Lachen quittiert wurde.
„Aber es ist schön, dass dieser Jemand sich endlich
überwinden konnte.“
Seine Worte waren wie Balsam für ihre letztlich sehr in
Mitleidenschaft gezogenen Nerven. Sie hatte zu viel Schlechtes erlebt, um
weiterhin jede öffentliche Kundgebung ihrer gemeinsamen Liebe zu unterbinden.
Vorerst fühlte sie sich jedoch in der Anonymität der Masse am wohlsten. Aber
sie war sich sicher, dass sich das noch ändern würde. Baby Steps.
Sie ging näher an Ludwig heran und genoss einen Bissen
Zuckerwatte, der klebrig süß auf ihrer Zunge zerging. Jeder Moment sollte so
perfekt sein wie dieser.
„Was machen wir heute noch?“, fragte sie, als sie einen
Stand mit Buddelschiffen passierten.
„Worauf hast du denn Lust?“
„O nein, du bietest mir ein Programm! Kein Input von
mir!“
Ludwig zog behutsam seine Hand weg, um seinen Arm um ihre
Schulter legen zu können.
„Ich habe zufällig erfahren, dass die Zuckermanufaktur
wieder zu Besichtigungen einlädt und uns für 17 Uhr zwei Plätze gesichert.
Falls du lieber was anderes machen willst… im Kino läuft bestimmt etwas. Und
wenn wir eines den beiden gemacht haben, gehen wir uns zuhause umziehen und
dann ins Restaurant.“
Auf Caseys Gesicht machte sich ein seliger Ausdruck
breit.
„Wo essen wir denn?“
„Beim Italiener in der Glockengasse ist ein Tisch reserviert.“
„Manzini? Du hast heimlich den Jackpot geknackt, oder?“
Vorerst antwortete Ludwig nur mit einem Brummen, das ihr
nicht ganz als Auskunft reichte. Trotzdem wurde ihr wohlig warm, wenn sie daran
dachte, dass er alles bereits geplant hatte.
„Weißt du, ich führe dich nicht jeden Tag aus, da soll es
großartig werden.“
Unter dem gemurmelten Protest anderer Bescher blieb Casey
stehen, was Ludwig ihr gleichtat und sie irritiert anschaute. Ihre freie Hand
legte sie ihm auf die Wange und streichelte diese sanft, ehe sie sich streckte,
um ihn zu küssen. Seine Lippen erwiderten den Druck sofort, wirkten dabei
jedoch weniger gierig als ihre. So war es immer zwischen ihnen gewesen. Kurz
kochte die Erinnerung an ihre erste gemeinsame Nacht in Casey hoch, doch sie lenkte
sich von diesem Gedanken ab, indem sie sich ein Stück von Ludwig entfernte.
Aus den Augenwinkeln erhaschte sie einige missgünstige
Blicke, die in keiner Weise mit ihrem Altersunterschied zusammenhängen mussten.
Es war einfach absurd, dass das Casey so naheging. Aber sie konnte die Gedanken
daran einfach nicht abschalten.
Ludwig lächelte sie an.
„Kannst du mich für ein paar Minuten entbehren?“
„Hm?“
„Außer du willst mit mir am Klohaus anstehen, dann nehme
ich dich gerne mit.“
Sie verzog das Gesicht. „Kein Bedarf.“
„Schade.“
Er strich ihr noch einmal sanft über die Schulter, ehe er
in die Richtung verschwand, aus der sie gerade gekommen waren. Casey verputzte
im Rekordtempo den Rest ihrer Zuckerwatte und stellte sich an einen
Süßigkeitenwagen. Zwei Männer Mitte 30 standen darin, um ihre Waren
feilzubieten. Die Süßigkeiten waren aufwändiger verziert als bei der Konkurrenz
und wahrscheinlich deswegen um einiges teurer. Entsprechend gering war der
Andrang an Leuten, die nicht nur gucken sondern kaufen wollten.
In der glänzenden Hülle eines Liebesapfels waren tanzende
Mäuse abgebildet, die Lebkuchenherzen waren mit Landschaftsbildern bemalt. Auf
einem kleinen Kuchen mit cremefarbenen Fondant standen zwei schmusende
Marzipantauben. Kekse gab es in allen Farben des Regenbogens. Besonders
ansprechend fand Casey einen rot-weißen Lolli, dessen Musterung Sterne ergab.
„Alles handgemacht!“, sagte einer der Männer. Er war groß
und schlank, in seinem Gesicht lagen dunkle Augen, die ein wenig gelangweilt
wirkten.
„Von euch zwei?“
Der zweite Mann lachte. Es war ein lebendiges und
ansteckendes Lachen, bei dem sogar einige Passanten einstimmten, ohne zu ahnen,
worum es überhaupt ging.
„Wir haben schon ein paar von den Sachen gemacht, oder,
Tom?“
Vom ersten Mann, Tom, kam ein enthusiastisches Nicken
gepaart mit einem Fingerzeig auf die Lebkuchenherzen.
„Meine Spezialität“, verkündete er.
„Und wenn ich nun eins haben will, auf dem ganz klassisch
‚Spatzl‘ steht?“
Erst sah Tom Casey mit leerem Gesicht an, ehe er grinste,
als habe sie ihn soeben zum Duell gefordert.
„Mach ich im Schlaf!“
„Jetzt sofort?“
„Sehe ich aus, als würde ich gerade schlafen?“
Casey hatte den Mund schon zu einer Antwort geöffnet, da
schnitt ihr ein lautes Geräusch jedes weitere Wort ab. Verwirrt guckte sie die
Straße hinunter und wollte sich schon wieder den Verkäufern zuwenden, doch es
kam ein weiterer markerschütternder Knall, bei dem die Straße bebte. Ein
Rattern aus der anderen Richtung. Schreie. In einiger Entfernung erkannte sie
Rauch, der in einer dichten Wolke von dort aufstieg, wo sich die
Landungsbrücken befanden.
„Scheiße!“, hörte sie Tom in dem Moment fluchen, in dem
sie die ersten Leute loslaufen sah.
Ihr Körper spannte sich an, machte sich zur Flucht
bereit, obwohl sie nicht begriff, was gerade geschehen war. Plötzlich wurde sie
am Arm gepackt und vom Weg gezogen.
„Komm mit in unseren Wagen!“, sagte der zweite Verkäufer
mit fester Stimme, „Wenn das gerade wirklich Schüsse waren“ – Schüsse! – „dann bist du bei uns
sicherer als da draußen!“
Casey riss sich aus seinem Griff los, wobei der Stiel
ihrer Zuckerwatte auf den Boden fiel. Die ersten Menschen in ihrer Nähe
begannen zu laufen, sich gegenseitig zu drücken und schieben oder einfach aus
dem Weg zu stoßen. Einer stolperte, fiel, niemand half ihm auf. Alle wollten
weg von den Landungsbrücken und diesem Rattern. Von den Schüssen.
Ludwig!
„Mein Freund ist da irgendwo! Ich muss ihn finden!“
„Nein! Das ist viel zu gefährlich!“
„Aber-“
Der Mann zog so ruckartig an ihren Schultern, dass sie
sich zu ihm umdrehen musste.
„Wenn er in Sicherheit ist und dir passiert was, dann ist
niemandem geholfen.“
Sie ließ sich ziehen, folgte allen Anweisungen, aber ihre
Gedanken kreisten nur um Ludwig. Gemeinsam mit Tom und Artie, wie sich der
zweite Mann vorstellte, kauerte sie in dem engen Anhänger, umgeben von allerlei
Süßkram, und lauschte der Panik, den Schreien, den lauter werdenden Schüssen.
Parolen klangen hindurch, in denen die Abspaltung Deutschland von der Krone
gefordert wurde.
In Caseys Gedanken blieb weiterhin wenig Platz für Angst
um ihr eigenes Leben. Was sollte sie machen, wenn Ludwig es nicht an einen
sicheren Ort geschafft hatte? Wenn er von herumfliegenden Projektilen erwischt
wurde? Wenn er-
Allein sich seinen Tod auszumalen, trieb ihr heiße Tränen
in die Augen.
Wenn sie Ludwig verlöre, wäre ihr Leben ohne Sinn. Sie
wusste nicht, ob sie dann weitermachen könnte.
Zwei Arme legten sich um sie so gut es in der Enge des
Fußraums ging. „Keine Sorge, uns wird hier nicht passieren“, erklärte Tom,
„alles schusssicher, der ganze Wagen.“
Aber Ludwig war nicht geschützt, trug er doch nur ganz
normale Kleidung, weil es ein gewöhnlicher Besuch aus dem Hafengeburtstag sein
sollte.
Caseys Schluchzen ging in den Stimmen vor dem Wagen
unter, in jedem Knall und jedem Rufen.
„Wir schaffen das. Und dann finden wir deinen Freund“,
sagte Artie. Sie wollte ihm so gerne glauben.
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