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[Überblick]

Ich fand, es ist mal an der Zeit, ein wenig Ordnung in die Challenge zu bringen. Immerhin ist es auch für mich schwierig geworden, immer die...

11.08.2017

[17 Horror]

Ich hätte so schön über Dinge wie Vampire schreiben können. Oder über anderes Horrorgesocks. Aber das bin ich einfach nicht, was dazu geführt hat, dass der Horror ein wenig subtiler in den Text fließen musste. Sollte es denn subtil geschehen sein.



Casey freute sich viel zu sehr über die Zuckerwatte in ihren Händen, um sich am Gedränge zu stören, das zu jedem Hafengeburtstag gehörte. Selbst zu Zeiten des Schmutzigen Krieges hatten die Hamburger es sich nicht nehmen lassen, nur diese wenigen Tage im Mai der Unbeschwertheit zu frönen. Damals waren die Feierlichkeiten von Protesten gegen den Krieg begleitet gewesen. Inzwischen hielten sich am Rande der Veranstaltung Demonstranten mit „Free Germany“-Schildern auf, die die Autonomie ihres eigenen Staates forderten.
Doch all das konnte Casey gut verdrängen. Eine Hand umfasste den Stiel ihrer großen, fluffigen Zuckerwatte, während die andere von Ludwig gehalten wurde. Somit war für den Moment alles perfekt.
„Ich kann gar nicht glauben, dass wir noch nie zusammen hier waren“, sagte sie, wodurch sie ihm ein kurzes Lachen entlockte.
„Jemand wollte ja nie“, sagte er.
Sie warf ihm einen herausfordernden Blick zu, der von ihm mit einem weiteren Lachen quittiert wurde.
„Aber es ist schön, dass dieser Jemand sich endlich überwinden konnte.“
Seine Worte waren wie Balsam für ihre letztlich sehr in Mitleidenschaft gezogenen Nerven. Sie hatte zu viel Schlechtes erlebt, um weiterhin jede öffentliche Kundgebung ihrer gemeinsamen Liebe zu unterbinden. Vorerst fühlte sie sich jedoch in der Anonymität der Masse am wohlsten. Aber sie war sich sicher, dass sich das noch ändern würde. Baby Steps.
Sie ging näher an Ludwig heran und genoss einen Bissen Zuckerwatte, der klebrig süß auf ihrer Zunge zerging. Jeder Moment sollte so perfekt sein wie dieser.
„Was machen wir heute noch?“, fragte sie, als sie einen Stand mit Buddelschiffen passierten.
„Worauf hast du denn Lust?“
„O nein, du bietest mir ein Programm! Kein Input von mir!“
Ludwig zog behutsam seine Hand weg, um seinen Arm um ihre Schulter legen zu können.
„Ich habe zufällig erfahren, dass die Zuckermanufaktur wieder zu Besichtigungen einlädt und uns für 17 Uhr zwei Plätze gesichert. Falls du lieber was anderes machen willst… im Kino läuft bestimmt etwas. Und wenn wir eines den beiden gemacht haben, gehen wir uns zuhause umziehen und dann ins Restaurant.“
Auf Caseys Gesicht machte sich ein seliger Ausdruck breit.
„Wo essen wir denn?“
„Beim Italiener in der Glockengasse ist ein Tisch reserviert.“
„Manzini? Du hast heimlich den Jackpot geknackt, oder?“
Vorerst antwortete Ludwig nur mit einem Brummen, das ihr nicht ganz als Auskunft reichte. Trotzdem wurde ihr wohlig warm, wenn sie daran dachte, dass er alles bereits geplant hatte.
„Weißt du, ich führe dich nicht jeden Tag aus, da soll es großartig werden.“
Unter dem gemurmelten Protest anderer Bescher blieb Casey stehen, was Ludwig ihr gleichtat und sie irritiert anschaute. Ihre freie Hand legte sie ihm auf die Wange und streichelte diese sanft, ehe sie sich streckte, um ihn zu küssen. Seine Lippen erwiderten den Druck sofort, wirkten dabei jedoch weniger gierig als ihre. So war es immer zwischen ihnen gewesen. Kurz kochte die Erinnerung an ihre erste gemeinsame Nacht in Casey hoch, doch sie lenkte sich von diesem Gedanken ab, indem sie sich ein Stück von Ludwig entfernte.
Aus den Augenwinkeln erhaschte sie einige missgünstige Blicke, die in keiner Weise mit ihrem Altersunterschied zusammenhängen mussten. Es war einfach absurd, dass das Casey so naheging. Aber sie konnte die Gedanken daran einfach nicht abschalten.
Ludwig lächelte sie an.
„Kannst du mich für ein paar Minuten entbehren?“
„Hm?“
„Außer du willst mit mir am Klohaus anstehen, dann nehme ich dich gerne mit.“
Sie verzog das Gesicht. „Kein Bedarf.“
„Schade.“
Er strich ihr noch einmal sanft über die Schulter, ehe er in die Richtung verschwand, aus der sie gerade gekommen waren. Casey verputzte im Rekordtempo den Rest ihrer Zuckerwatte und stellte sich an einen Süßigkeitenwagen. Zwei Männer Mitte 30 standen darin, um ihre Waren feilzubieten. Die Süßigkeiten waren aufwändiger verziert als bei der Konkurrenz und wahrscheinlich deswegen um einiges teurer. Entsprechend gering war der Andrang an Leuten, die nicht nur gucken sondern kaufen wollten.
In der glänzenden Hülle eines Liebesapfels waren tanzende Mäuse abgebildet, die Lebkuchenherzen waren mit Landschaftsbildern bemalt. Auf einem kleinen Kuchen mit cremefarbenen Fondant standen zwei schmusende Marzipantauben. Kekse gab es in allen Farben des Regenbogens. Besonders ansprechend fand Casey einen rot-weißen Lolli, dessen Musterung Sterne ergab.
„Alles handgemacht!“, sagte einer der Männer. Er war groß und schlank, in seinem Gesicht lagen dunkle Augen, die ein wenig gelangweilt wirkten.
„Von euch zwei?“
Der zweite Mann lachte. Es war ein lebendiges und ansteckendes Lachen, bei dem sogar einige Passanten einstimmten, ohne zu ahnen, worum es überhaupt ging.
„Wir haben schon ein paar von den Sachen gemacht, oder, Tom?“
Vom ersten Mann, Tom, kam ein enthusiastisches Nicken gepaart mit einem Fingerzeig auf die Lebkuchenherzen.
„Meine Spezialität“, verkündete er.
„Und wenn ich nun eins haben will, auf dem ganz klassisch ‚Spatzl‘ steht?“
Erst sah Tom Casey mit leerem Gesicht an, ehe er grinste, als habe sie ihn soeben zum Duell gefordert.
„Mach ich im Schlaf!“
„Jetzt sofort?“
„Sehe ich aus, als würde ich gerade schlafen?“
Casey hatte den Mund schon zu einer Antwort geöffnet, da schnitt ihr ein lautes Geräusch jedes weitere Wort ab. Verwirrt guckte sie die Straße hinunter und wollte sich schon wieder den Verkäufern zuwenden, doch es kam ein weiterer markerschütternder Knall, bei dem die Straße bebte. Ein Rattern aus der anderen Richtung. Schreie. In einiger Entfernung erkannte sie Rauch, der in einer dichten Wolke von dort aufstieg, wo sich die Landungsbrücken befanden.
„Scheiße!“, hörte sie Tom in dem Moment fluchen, in dem sie die ersten Leute loslaufen sah.
Ihr Körper spannte sich an, machte sich zur Flucht bereit, obwohl sie nicht begriff, was gerade geschehen war. Plötzlich wurde sie am Arm gepackt und vom Weg gezogen.
„Komm mit in unseren Wagen!“, sagte der zweite Verkäufer mit fester Stimme, „Wenn das gerade wirklich Schüsse waren“ – Schüsse! – „dann bist du bei uns sicherer als da draußen!“
Casey riss sich aus seinem Griff los, wobei der Stiel ihrer Zuckerwatte auf den Boden fiel. Die ersten Menschen in ihrer Nähe begannen zu laufen, sich gegenseitig zu drücken und schieben oder einfach aus dem Weg zu stoßen. Einer stolperte, fiel, niemand half ihm auf. Alle wollten weg von den Landungsbrücken und diesem Rattern. Von den Schüssen.
Ludwig!
„Mein Freund ist da irgendwo! Ich muss ihn finden!“
„Nein! Das ist viel zu gefährlich!“
„Aber-“
Der Mann zog so ruckartig an ihren Schultern, dass sie sich zu ihm umdrehen musste.
„Wenn er in Sicherheit ist und dir passiert was, dann ist niemandem geholfen.“
Sie ließ sich ziehen, folgte allen Anweisungen, aber ihre Gedanken kreisten nur um Ludwig. Gemeinsam mit Tom und Artie, wie sich der zweite Mann vorstellte, kauerte sie in dem engen Anhänger, umgeben von allerlei Süßkram, und lauschte der Panik, den Schreien, den lauter werdenden Schüssen. Parolen klangen hindurch, in denen die Abspaltung Deutschland von der Krone gefordert wurde.
In Caseys Gedanken blieb weiterhin wenig Platz für Angst um ihr eigenes Leben. Was sollte sie machen, wenn Ludwig es nicht an einen sicheren Ort geschafft hatte? Wenn er von herumfliegenden Projektilen erwischt wurde? Wenn er-
Allein sich seinen Tod auszumalen, trieb ihr heiße Tränen in die Augen.
Wenn sie Ludwig verlöre, wäre ihr Leben ohne Sinn. Sie wusste nicht, ob sie dann weitermachen könnte.
Zwei Arme legten sich um sie so gut es in der Enge des Fußraums ging. „Keine Sorge, uns wird hier nicht passieren“, erklärte Tom, „alles schusssicher, der ganze Wagen.“
Aber Ludwig war nicht geschützt, trug er doch nur ganz normale Kleidung, weil es ein gewöhnlicher Besuch aus dem Hafengeburtstag sein sollte.
Caseys Schluchzen ging in den Stimmen vor dem Wagen unter, in jedem Knall und jedem Rufen.
„Wir schaffen das. Und dann finden wir deinen Freund“, sagte Artie. Sie wollte ihm so gerne glauben.

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