Aber davon wollen wir uns nicht runterkriegen lassen.
Hier endlich der nächste Beitrag zur Challenge, der ein wenig länger geworden ist, als geplant war. Und bei dem auch irgendwann das Thema vollkommen unter den Teppich gekehrt wurde. Daran kann ich nichts ändern.
Sie haben Bernie!
Elrica wischte sich Tränen von den Wangen, als sie durch
den kleinen staubigen Schacht krabbelte. Auf allen Vieren bahnte sie sich in
vollkommener Dunkelheit ihren Weg durch diesen einstigen Fluchtweg königlicher
Kinder. Ihr Weg führte sie entgegen der gedachten Richtung direkt hinein in den
Palast.
Eine grobe Karte mit der Raumaufteilung steckte in
einer Hosentasche, damit Elrica später auch fand, was sie finden sollte. Nicht
die Kronjuwelen, das hatte sie sehr beruhigt, sondern nur drei Löffel. Drei
ganz bestimmte Löffel, die vor zweihundert Jahren mit den Wappen des zu der
Zeit herrschenden Königs und seiner beiden engsten Getreuen versehen worden
waren.
Das war ein bedeutenderes Vergehen als einen
Cottagebesitzer um ein Stück Käse zu erleichtern, doch für Bernie würde Elrica
noch viel mehr tun. Dennoch wummerte ihr Herz. Diebe wurden auf die
unterschiedlichsten Arten bestraft. Diebe an der Krone jedoch verloren ihre
Leben statt ihrer Hände.
Elricas Finger stießen auf einen Wiederstand, der
hoffentlich der Ausgang dieses Tunnels war. Sie tastete ihn ab und überlegte,
ob sie ihn wirklich öffnen sollte. Es war kein Feriendomizil eines
Landadeligen, in das sie einbrach, es war der Royal Palace, das Herz des
Empires. Bestimmt war jeder Ein- und Ausgang von den ehrenwerten Brüdern mit
Zaubern belegt worden, die warnen oder schützen sollten. Es konnte sein, dass
sie versuchte in den Palast zu gelangen und am nächsten Morgen als verkohlte
Leiche gefunden wurde.
Ihr blieb keine Wahl, solange Bernie nicht wieder sicher
zuhause war.
Sie tastete die Fläche an den Rändern nach einer
Aussparung ab, in der sich der Öffnermechanismus verborgen hielt. Ihr war es
erst unlogisch erschienen, einen Fluchtweg auch von innen mit einem Öffner zu
versehen, wo er doch eigentlich nur nach draußen führen sollte. Doch man hatte
ihr erklärt, dieser Tunnel sei später von Mägden benutzt worden, um heimlich zu ihren
Liebhabern zu verschwinden – und die hatten jemanden beauftragt, den
Gang auch von innen mit einem Öffner zu versehen.
Schließlich fand Elrica ein kleines Rädchen und drehte
daran. Mehrere Zahnräder griffen hörbar ineinander, was in der Stille laut klang,
so dass sie den Atem anhielt. Einige Sekunden lauschte sie dem Klackern, ehe
sich die Tür wie von Geisterhand öffnete. Vorsichtig steckte Elrica den Kopf
hindurch und schaute sich zu allen Seiten um. Der Raum war klein und nur vom
schwachen Mondlicht, das durch ein winziges Fenster herein drang, erhellt. Staub
tanzte träge in der Luft. Elrica zog sich aus dem Tunnel und rappelte sich
begleitet vom Rascheln ihrer Kleidung auf. Sie klopfte ein wenig Dreck von
ihrem Körper. Neben ihr standen Besen, Schrubber und Eimer, auf der
gegenüberliegenden Seite des Raums war ein großes Regal mit einer Vielzahl
Utensilien, die sich bei genauerer Betrachtung als Werkzeuge entpuppten. Aber
keine Löffel.
Mit ihrer Karte in der Hand stellte sie sich so nah es
ging an das kleine Fenster, um sich die Raumaufteilung in Erinnerung zu rufen.
Sie war irgendwo am südlichen Ende des Palasts, wo sich alles befand, was eine
gewisse Ausstrahlung vermissen ließ. Alles Hässliche und Alltägliche wie die
Schlafräume der Angestellten, die Küche und ähnliches. Das hieß für Elrica,
dass sie ganz in der Nähe einer Menge Leute war, die beim leisesten
ungewöhnlichen Geräusch sofort Alarm schlagen würden. Elrica drehte die Karte
mehrfach und versuchte sich so den Weg besser einzuprägen. Dann faltete sie die
Karte wieder zusammen, ließ sie in einer Hosentasche verschwinden und ging
leise aus dem Raum hinaus.
Zur linken Seite waren nur die Bäder der Dienerschaft,
dorthin musste sie sich nicht wenden. Also ging sie rechts herum, von wo sie
etwas klappern und einige Männer laut miteinander reden hörte. Um einzelne
Worte auszumachen, war sie zu konzentriert darauf, möglichst keinen Mucks von
sich zu geben. Sie musste ein Wiesel sein. Schritt für Schritt bahnte sie sich
ihren Weg durch den wenig erhellten Korridor und hielt zum ersten Mal an, als
sie den Raum erreichte, der Quell des Lärms war. Die Tür stand offen und Licht
drang zusammen mit dem Geruch von Bier hinaus.
„Oi, du betrügst doch irgendwie!“, sagte ein Mann
anklagend.
„Nee, sicher nicht“, beteuerte ein zweiter.
„Warum gewinnst du dann immer?“, fragte ein weiterer
Mann, der klang, als habe man ihn gerade aus dem Bett geholt.
„Tu ich gar nicht!“
„Ich rede dir nicht gerne rein, aber das tust du doch.“
Elrica lauschte noch einen Moment den aufgeregten Stimmen
der Männer, die sich anscheinend zu viert zu einem Kartenspiel und einem oder
auch zwei Gläschen zusammengefunden hatte. Die feinen Haare in ihrem Nacken
stellten sich auf, weil ihr etwas an der letzten Stimme bekannt vorkam, ohne
dass sie sie zuordnen konnte.
Kurz schaute sie in den Raum, die Küche, hinein und
konnte beinahe fühlen, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel, weil sie wohl niemand
sehen konnte, wenn sie nur zwei Rücken sah. Als sie sicher war ungesehen zu
bleiben, schlich sie an der offenen Tür vorbei. Kalter Schweiß lief ihr über
den Nacken. Sie zwang sich dazu, den Worten der Männer keine Aufmerksamkeit
mehr zu schenken, obwohl das bedeuten würde, genau zu erfahren, ob einer sie
gesehen hatte. Aber sie war auch so schon nervös genug. Man hatte sie schon
nicht gesehen, sonst wäre sogleich Alarm geschlagen worden.
Die ganze Nervosität, das wild hämmernde Herz – alles nur
für Bernie.
Also setzte Elrica ihren Weg durch die Gänge des Palastes
fort und hielt nur einmal kurz an, um ihre Position auf der Karte zu
überprüfen.
Die Bereiche der Angestellten wichen prächtigeren Fluren
mit marmornen Böden und Läufern, die bei besserem Licht sicher rot aussahen.
Von den Wänden starrten so viele Gesichter, dass Elrica bang wurde. Waren
hinter den Gemälden vielleicht Wachen in den Wänden versteckt, die sie
beobachten konnten? Derartiges war nicht im Plan verzeichnet, dessen Quelle und
Genauigkeit jedoch auch weiterhin fraglich war. Deshalb wollte Elrica diese
Möglichkeit nicht vorschnell abschreiben, schließlich ging es bei solchen
Maßnahmen um die aktuellen und zukünftigen Herrscher.
Da sie sich vor den vielen Portraits nicht in Sicherheit
bringen konnte, blieb ihr nichts weiter, als dem Flur zu folgen, ohne Geräusche
zu machen. Der Läufer war dabei sehr hilfreich. Dennoch ging sie ein wenig
schneller als zuvor, hörte das Blut in ihren Ohren rauschen.
Die wenigen Minuten bis zu ihrem Ziel zogen sich wie ein
besonders zäher Teig, doch schließlich hielt sie an einer Ecke an, hinter der
der gesuchte Raum sich befinden musste. Sie fischte einen kleinen Spiegel aus
ihrer Hosentasche, putzte ihn so gut es ging mit ihrem Ärmel und hielt ihn ein
Stückweit in den Gang um die Ecke. Zwei Wachen taten ihren Dienst, ohne sonderlich
motiviert zu wirken. Aber sie würden Elrica auf jeden Fall sehen und
niederringen, das war schließlich ihre Aufgabe.
Was konnte sie nur tun, damit sie an den beiden Herren
vorbei zum Raum mit den Löffeln gelangen konnte?
Der Lageplan sagte nicht genau, in welchen Raum sie
hinein musste. Es konnte nur einer der fünf sein, vor denen die Wachen positioniert
waren, also mussten die Herren weggelockt werden. Elrica schaute sich hektisch
um. Sie musste eine Ablenkung schaffen und beten, dabei nicht gefasst zu
werden. Nur wenn beide Männer von Neugier getrieben ihren Posten verließen,
hatte sie überhaupt den Hauch einer Chance.
Ein Stück in die Richtung, aus der sie gekommen war,
standen Vasen auf Tischen. Wenn diese zu Boden geworfen wurden, machten sie
sicher genug Lärm, um als Ablenkung zu dienen. Elrica würde sich in einem
Türrahmen verstecken und dann laufen, als wäre der Teufel hinter ihr her. Es
war kein guter Plan. Eigentlich war es ein selbstmörderischer Plan. Aber Elrica
ging zum Tisch und hob die erste filigrane Vase an. Sie war mit einem
hauchfeinen goldenen Muster verziert und viel schwerer als erwartet.
Wahrscheinlich kostete sie genug, um eine gesamte Familie für einige Wochen
satt zu kriegen.
Elrica schloss die Augen, weil sie nicht sehen wollte,
wie die Vase gegen die anderen stieß und alle zusammen in tausend Stücke
zerbarsten. Jetzt nur noch Schwung holen und-
Eine Hand legte sich auf ihren Mund, eine zweite zog sie
gegen einen fremden Körper. Vor Schreck erstarrte sie.
„Mach dich nicht unglücklich, Elrica“, hauchte die Stimme
des vierten Mannes aus der Küche in ihr Ohr, sodass sich wieder die Härchen in
ihrem Nacken aufrichteten. „Ich lasse dich alles Essen mitgehen, das du
brauchst; aber Zerstörung hoheitlichen Eigentums ist eine Nummer zu groß für
dich.“
Christopher Pierce!
Mit einem Mal fühlten sich alle Muskeln in ihrem Körper
an, als wären sie aus Wasser. Die Vase entglitt ihrem Griff und zerschellte nur
nicht, weil Christopher sie gerade noch zu fassen bekam. Elrica sank auf den
Boden, während er die Vase wieder an den richtigen Platz stellte.
Sie war unvorsichtig gewesen. Man hatte sie erwischt. So
würde sie niemals zu den Löffeln kommen und Rowan würde Recht behalten, weil er
das gesamte Vorhaben als Himmelfahrtskommando bezeichnet hatte. Bernie kam nie wieder
frei, wenn sie diese verdammten Löffel nicht bekam!
Sie hörte das Rascheln von Kleidung und begriff erst,
dass Christopher sich neben sie gesetzt hatte, als er ihr einen Arm um die
Schulter legte. Vorsichtig wischte er über ihre Wange, um Tränen aufzufangen,
die sie nicht mehr zurückhalten konnte. Sie hasste weinen. Vor ihm zu weinen
hasste sie noch mehr. Mit jeder neuen Träne zuckte ihr Körper unkontrolliert
und ließ sie mehr von sich preisgeben, als sie wollte.
„Ganz ruhig. Du bist eine Kuchendiebin, nichts weiter.
Was auch immer dich hergebracht hat – das bist nicht du.“
„Du verstehst das nicht!“
„Dann erklär es mir.“
Sie schaute ihn verwirrt an. Seine kleinen Augen wirkten
ganz anders als beim letzten Mal. Se waren weit geöffnet und funkelten nicht
vor Belustigung. Als würde ihn diesmal wirklich interessieren, was sie zu sagen
hatte.
„Ich weiß nicht…“, sagte sie ganz leise, sodass er mit
dem Kopf noch ein Stück näher kam, um sie zu verstehen.
„Ja?“
„Ich-“
Schlagartig schaute er von ihr weg, was sie nur noch mehr
verwirrte. In einer fließenden Bewegung zog er sie auf seinen Schoß und
murmelte etwas, das sie nicht richtig ausmachen konnte, jedoch wie ein Fluch
klang. Ihr Körper begab sich in eine Schockstarre.
„Spiel mit“, raunte Christopher ihr zu, als er ihr über
den Rücken strich und seine zweite Hand unter ihr Oberteil rutschen ließ.
„Aber-“
„Da kommt jemand, der dich besser nicht ohne… Begründung…
hier sehen sollte. Es tut mir leid, Elrica, bitte glaub nicht, ich würde das
hier tun wollen.“
Sie wusste gar nicht, ob sie beruhigt oder empört sein
sollte, doch es gelang ihr, ihre Muskeln ein wenig zu lockern, um nicht
vollkommen starr auf ihm zu sitzen. Kurz darauf ertönte ein Pfiff, bei dem Christopher
sogleich von ihr abließ. Er schaffte es, verlegen zu den beiden grinsenden
Männern zu schauen, die nun bei ihnen standen.
„Jeff, was haben wir denn da?“
„Eine Dame“, erwiderte Christopher ein wenig zu ruhig für
jemanden, der gerade bei einem geheimen Stelldichein erwischt worden war. Der
Gedanke trieb Blut in Elricas Wangen, was die Wachen nur noch mehr grinsen
ließ.
„Jetzt wo du’s sagst… ich dachte erst, du hättest dir
einen kleinen Liebhaber geangelt“, meinte derselbe Mann wie zuvor, ein
mittelgroßer Typ mit feinem Haar von der Farbe einer Karotte.
Der Mann daneben warf Elrica einen anzüglichen Blick zu,
was sein hübsches Gesicht sogleich unsympathisch machte. „Sieht ja auch so aus,
die Kleine.“
Elrica öffnete schon den Mund, um die beiden Kerle
zusammenzustauchen, doch Christopher zog sie wie zum Schutz an sich. Seine
Muskeln waren hart vor Anspannung.
„Lasst mich doch einfach in Ruhe, wir suchen uns ja schon
einen leeren Raum.“
Der rothaarige Wachmann hob vielsagend die Brauen, sein
Kollege kicherte. Christopher zog Elrica mit sich auf die Beine und führte sie
an der Hand den Gang hinunter, den sie zuvor gekommen war. Jeder Schritt
brachte sie weiter von den Löffeln weg. Könige der Vergangenheit schauten
höhnend aus ihren Rahmen dabei zu.
Sie achtete nicht darauf, wohin sie gebracht wurde. Erst
als eine Tür hinter ihr geschlossen wurde, guckte sie Christopher wieder an.
Sein Gesicht wirkte nüchtern, seine Muskeln lockerten sich nicht.
„Christopher“, versuchte sie es, wusste aber nicht
weiter. Was sollte sie ihm schon sagen? Er war ein Pierce-Erbe – trotz seiner
Scharade. In seinem Leben gab es keinen Hunger, kein Leid. Keine entführten
kleinen Brüder.
„Wenn Fred und Noel zuerst bei dir gewesen wären, würdest
du in den Kerker geworfen werden!“
„Ich weiß.“
„Wenn ich dir nicht gefolgt wäre, hättest du diese Vase
zerstört und dir auch noch das Vergehen auf deine Kappe schreiben müssen.“
„Ja…“
Er befeuchtete seine Lippen, ließ den Blick kurz
schweifen.
„Ich dachte, du stiehlst Essen von denen, die genug
haben, um deine Familie satt zu kriegen. Hab ich mich getäuscht? Hätte ich dich
doch den Wachen überlassen sollen?“
Ein Schauer überkam sie bei der Erinnerung an ihre
Gedanken vor einigen Wochen im Wald. Er hatte sie laufen lassen und sie schon
damals auf seine Weise gerettet.
„Das wirst du niemals verstehen“, antwortete sie leise.
„Versuch es.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und machte
einen halben Schritt zurück. Er seufzte.
„Soll ich wieder anfangen?“, fragte er, während er sich
auf den Boden setzte, „Was willst du wissen?“
Vorsichtig nahm auch sie Platz und zog die Knie an die
Brust. Es gab nichts, das er ihr erzählen konnte. Er spielte wohl auf Zeit.
Also spielte sie vorerst mit. „Wieso bist du hier?“
„Ah, gute Frage. Wieso bin ich hier? Du glaubst bestimmt,
ich muss verrückt gewesen sein, mein Leben für dieses aufzugeben, und
vielleicht war ich das auch. Aber ich bin zum ersten Mal wirklich meinem
Bauchgefühl gefolgt. Seit Alexis weg ist“, er schaute sie fragend an und fuhr
erst fort, als sie nickte, „Seit er weg ist, habe ich mich gefragt, warum er
gegangen ist, ohne es jemandem zu sagen.“
„Er ist weggelaufen?“
Was für ein Idiot! Als Pierce standen ihm alle Türen
offen, selbst als drittgeborener. Alexis hätte alles haben können, was sein
Herz begehrte, schließlich war er in Reichtum hinein geboren worden.
„Offiziell natürlich nicht. Aber ich habe meinen
offiziell-nicht-weggelaufenen Bruder zufällig getroffen. Hier. Er ist jetzt
Postbote und das hat mich ins Grübeln gebracht. Warum? Was soll das? Er hat ein
Leben aufgegeben, für das andere alles tun würden. Er hat das mit Füßen
getreten, was zwei Generationen aufgebaut haben und was bald an die dritte
weitergegeben wird.“ Christopher lächelte. „Irgendwann hab ich mich gefragt, ob
es vielleicht genau das ist. Alec hat nie ins Unternehmen gepasst. Nie.
Vielleicht ist er bei der Royal Mail wirklich glücklicher. Vielleicht wäre ich
in der Nähe meines Bruders als einfache Palastwache noch ein Stück
zufriedener.“
„Bist du es?“
„Mir fehlt der Luxus“, gab Christopher grinsend zu,
„ansonsten… alles hat Vor- und Nachteile.“
Sie nickte, obwohl sie sich nicht vorstellen konnte,
inwiefern jemand wie sie es besser haben sollte als die Reichen.
„Jetzt frage ich mich aber, wieso jemand von einer
Kuchendiebin zur Palaststürmerin umsteigt. Noch dazu ohne ausgereiften Plan.
Woher der Sinneswandel?“
„Das ist doch egal. Diesmal musst du mich ausliefern und
dann kümmert sich niemand mehr um die Gründe.“
Es war Elrica auch gleich. Ohne die Löffel musste sie
nicht zurückkommen, das hatten die Entführer deutlich gemacht. Sie erinnerte
sich noch an das Schreien und Wimmern von Bernie, als die Kerle seine linke
Hand gegriffen und langsam ein Stück vom kleinen Finger abgeschnitten hatten,
um Elrica zur Kooperation zu bewegen. Wenn sie die Löffel nicht aus dem Palast
holte, verlor Bernie mehr als einen Finger.
„Mir ist es nicht egal.“
„Was kannst du schon ausrichten, Jeff?“, fragte sie nicht halb so herausfordernd wie gewollt.
„Lass es mich doch wenigstens probieren.“
„Ich bin kein Projekt. Ich bin… kein neuer Kochlöffel,
den man auf den Prüfstand stellt und wegwirft, wenn er nicht funktioniert. Ich
habe ein Problem, aus dem ich mir nur allein helfen kann. Warum sollte ein Pierce mir überhaupt helfen wollen?“
Christopher öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder.
Seine Stirn lag in Falten.
Elrica setzte sich in den Schneidersitz und betrachtete
ihn. Der Schmutz auf seiner Uniform kam bestimmt von ihrer Kleidung. Auf seinem
linken Handrücken heilte eine kleine Wunde. Am interessantesten waren seine
Augen, zu klein und zu dicht beieinander, die Farbe ein heller Ton, der weder
richtig grün noch blau war, jedenfalls in dem spärlichen Licht.
„Ich weiß nicht. Ich… keine Ahnung. Es ist einfach so ein
Gefühl. Ich meine… ich hab dich erst einmal vorher gesehen, aber ich will
nicht, dass dir etwas passiert, Elrica.“
Sie reckte das Kinn. „Ich brauche keinen Beschützer!“
„Dann einen Freund“, sagte er leise, ganz leise.
Etwas in ihr regte sich, ließ sie wieder rot sehen. „Du
bist ein Pierce“, es klang wie Kakerlake, „Was glaubst du denn, wie wir
befreundet sein können, hä?“
„Du traust mir nicht“, er legte den Kopf schief, „du
willst nicht mit mir reden, weil du mir nicht traust, oder? Ich hab dich doch
schon mal gehen lassen! Würde ich es wollen, könnte ich dich augenblicklich
schnappen – und es wird ein ganz kurzer Prozess folgen, an dessen Ende du tot
bist. Ist es das, was du willst?“
„Es ist nur…“ Sie schloss die Augen, rieb sich über die
Nasenwurzel. „Tot bin ich auch, wenn ich nicht finde, wofür ich hier bin.“
Seine Brauen gingen nach oben und er rückte an Elrica
heran, sodass sich ihre Knie berührten.
„Was hat man gegen meine kleine Kuchendiebin in der Hand?“
„Nichts.“ Bernie! Sie wollte es schreien, wollte toben,
wollte diese verdammten Löffel finden, statt wertvolle Minuten mit Christopher
zu verplempern. Einen Moment wartete er noch ab, dann stand er auf.
„Was sollst du denn holen?“
Elrica rappelte sich auf. „Was?“
„Was du holen sollst? Ich helfe dir so gut ich kann.“
Sie schaute ihn mit großen Augen an und erwartete, dass
er begann zu lachen. Doch er lachte nicht.
„Guck mich nicht so an. Ich traue dir. Wenn du etwas
stehlen musst, hat das einen Grund – wie beim Kuchen auch. Dass du nicht mit
mir darüber reden willst, ist okay. Nur lass mich dir helfen.“
Alle Muskeln in ihrem Körper spannten sich an. Das konnte
nur eine Falle sein. Ein Pierce konnte keiner nebulösen Gestalt wie ihr helfen
wollen, nicht seiner altruistischen Ader zuliebe.
„Ich will nicht in deiner Schuld stehen“, sagte sie kalt
und drehte sich um. Sie kam keine drei Schritte weit, da griff er sie am Arm
und hielt sie auf.
„Tust du das dann nicht schon?“
„Ich habe nicht um deine Hilfe gebeten! Da schon nicht!“
Er seufzte. Dann packte er härter zu, drängelte sie gegen
die geschlossene Tür und hielt sie dort fest, sodass sie ihn anschauen musste.
„Sei doch nicht so stur“, presste er zwischen
zusammengebissen Zähnen hervor.
„Was sonst? Rufst du deine Freunde, um die Drecksarbeit
für dich zu machen? So macht ihr Reichen das doch immer, um eure Finger nicht
schmutzig zu machen!“
„Du hast keine
Ahnung von meinem Leben!“
„Und du kannst gerne weiter Wache spielen, aber du wirst
niemals verstehen, wie es ist in meiner Haut zu stecken!“
„Elrica-“
„Wieso willst du mir überhaupt helfen? Ist das ein
Wettbewerb mit deinem Bruder? Wer am meisten Gewöhnlichen hilft?“
„Lass es mich doch einfach tun! Es kann doch nicht so schwer
sein!“
„Dann sag mir, was du davon hast! Wieso willst du mir
helfen, ohne mir auch nur einen Grund zu geben, dir zu trauen?“
Christopher ließ sie los und machte einen Schritt zurück.
Sie widerstand dem Drang über die Stellen zu streichen, an denen er sie gepackt
hatte.
„Vorhin… du bist verzweifelt, das habe ich gesehen.
Hättest du diese Vase kaputt gemacht, wärst du entdeckt worden, noch bevor du
ein Versteck gefunden hättest, und“, er holte tief Luft, strich sich durch sein
kurzes Haar, „ich hab dir schon gesagt, dass ich nicht weiß warum, aber das zu
sehen, hat mir nicht gefallen.“
„Das reicht mir nicht“, stellte sie ruhig fest.
Ein Ausdruck huschte über sein Gesicht, zu schnell, um
ihn richtig deuten zu können. Trauer? Schmerz? Elrica wunderte sich noch
darüber, als Christopher einen weiteren Schritt zurückging.
„Ich wünschte, du würdest mir vertrauen“, sagte er leise,
seine Stimme ungewohnt rau.
Irritiert hob sie die Hand und wollte ihm über den Arm streichen,
wie sie es bei Rowan oder Bernie täte. Doch sie ließ die Hand wieder sinken.
„Wenn Wünsche reichen würden, wäre ich jetzt gar nicht
hier.“
Er schaute sie an und diesmal war die Trauer ganz klar
auf seinem Gesicht zu erkennen.
„Du musst gar nicht versuchen, mich mit
Stimmungsschwankungen weichzukochen. Ich kenne diese Tricks von meinem kleinen
Bruder. Das wird nicht-“
Als Christopher wieder auf sie zukam, brach sie ab, weil
der misstrauische Teil in ihr erwartete, dass er sie wieder packte oder sogar
schlug. Doch das tat er nicht. Stattdessen sank er vor ihr auf die Knie und
umfasst ihre Hand, als sei sie zerbrechlich. Was bei der Kraft, die er
aufwenden konnte, sicher auch der Wahrheit entsprach.
„Bitte, Elrica, lass mich dir bitte helfen. Ich würde es
nicht ertragen, wenn dir etwas passiert, und ich mir immer wieder vorhalten
muss, dass ich es hätte verhindern können. Ich bitte dich.“
Es drehte sich also gar nicht um sie! Elrica zögerte.
Christopher war wie alle anderen ein Egoist. Dennoch hatte sie ohne ihn so gut
wie keine Chance, jemals auch nur einen der Löffel zu sehen, geschweige denn
mitzunehmen.
Ihre Hand kribbelte. Sie musste ihre dünne Chance nur
richtig nutzen, oder aber…
„Wie soll ich meine Schuld bei dir denn je wieder
begleichen?“
Er schüttelte den Kopf. „Du hast von Schuld gesprochen,
nicht ich. Sieh das hier einfach als Ausgleich dafür an, dass ich eine
Kuchendiebin mit Toffees versorgt habe.“
Dass diese Rechnung nicht aufging, wusste er sich so gut
wie sie. Trotzdem merkte Elrica, wie ihr Widerstand durch diesen taktisch
günstig gelegten Kniefall ins Wanken geriet. Christopher konnte ihr helfen Bernie
zu befreien. Das war es ihr wert – und wenn sie sich damit für immer durch
Schuld an ihn band.
„Nun gut“, sagte sie langsam, „Ich suche drei Löffel.“
Oh Gott, oh Gott, es ist so wunderbar! :D
AntwortenLöschenIch bin richtig nervös gewesen und hab mitgefiebert.
Irgendwie hatte ich so ein Gefühl, dass Christopher das war, den sie gehört hat und dass er ihr auf die ein oder andere Weise wiederbegegnen würde/Ihr helfen würde.
Ich hoffe, dass es bald noch mehr von den beiden zu lesen geben wird. Ich bin im Rausch. Die Geschichte und deine Charaktere sind einfach wundervoll!
Vielen Dank für den lieben Kommentar, ich freu mich immer so, wenn du etwas zu meinen Sachen sagst. :'D
LöschenEs hat leider viel zu lang gedauert, das hier endlich abzutippen. Ich weiß gar nicht, wie viele Tage/Wochen es schon fertig war, ohne dass ich Zeit hatte, den "Kram" vom Block auf den Computer zu übertragen. Ich gelobe Besserung. Oder auch nicht.
Ich versuche auf jeden Fall noch mehr zu den beiden zu schreiben. Da schwingen eindeutige Vibes mit, wenn sie interagieren (oder das ist mein altes Shipper-Herz, das da zu sehr klopft).