Das Atmen fiel ihm schwer. Er hatte geahnt, dass etwas
geschehen würde, sobald er den Schutz der Stadt verließ, die ihm lange Heimat
gewesen war. Zu lange. Die Wochen waren irgendwann zu Jahren verschwommen, dann
zu Jahrzehnten, schließlich jedoch zu Jahrhunderten. Nun fühlte er sich, als
würde die Natur sich zurückholen, worum sie betrogen worden war. Natürlich
wusste er, dass das nur Unsinn sein konnte, schließlich wäre er dann innerhalb
weniger Sekunden zu Staub zerfallen. Seine Alterung, die einst angehalten
worden war, lief jetzt, da er den Dunstkreis seines Königs verlassen hatte, mit
normaler Geschwindigkeit weiter.
Was ihm jedoch zu schaffen machte, war der Zauber, der
ihn an die Stadt binden sollte. Statt ihn komplett zu lösen, hätte er ihn nur
stark abgemildert, was wohl nun seinen Tribut forderte. Auf irgendeine Weise
musste er für jeden Schritt zahlen, den er sich ohne Erlaubnis entfernte, und
wie es aussah, schlug ihm sein Ungehorsam auf die Lunge. In seinem Kopf fand er
keinen Weg etwas dagegen zu unternehmen, denn trotz seiner Erfahrung als Doktor
war ihm niemals ein Fall untergekommen, der es erforderte, einen Zauber mit
einem Gegenzauber zu lösen, um Krankheiten zu vertreiben. Nein, er hatte sich
um die alltäglichen Dinge gekümmert wie Geburten und Schnupfen und gebrochene
Arme.
Er wusste, dass er sich nur hätte in Geduld üben müssen.
Noch ein wenig mehr Zeit und er hätte den Zauber gänzlich gelöst. Was waren
schon ein paar Jahre mehr, wenn man schon viele Dekaden am selben Ort verbracht
hatte, ohne jemals tätig zu werden. Es hätte nicht schwer sein sollen, ein
weiteres Jahr auszuharren. Aber sie
war geschehen. War mit ihren großen unschuldigen Augen in sein Leben getreten
und hatte sich nicht damit abfinden können, in einer Stadt gefangen zu sein. Ihr war die Flucht gelungen, vor der sie ihm noch diesen Floh ins Ohr gesetzt
hatte. Er brauchte sie, deshalb hatte
er der nagenden Erinnerung an ihre
sanfte Stimme einfach zu früh nachgegeben.
„Folge mir.“
Er hatte mit sich gerungen, gekämpft, aber er wollte ihr folgen, wollte sie wieder in seinem Leben wissen. Sie war als seine Schülerin zu ihm gekommen und auf gewisse Weise
als seine Lehrerin gegangen.
Um wieder ein wenig besser Luft zu bekommen, blieb er an
einem Baum stehen und lehnte sich an. Endlich konnte er die neuen Eindrücke auf
sich wirken lassen, da er zuvor zu sehr damit beschäftigt war, Distanz zur
Stadt zu gewinnen. Diese Welt außerhalb der Stadtgrenzen war einst seine Heimat
gewesen, in der er von Ort zu Ort gewandert war, wie es ihm gepasst hatte. So
einige Abenteuer lagen hinter ihm, einige Mädchenherzen waren gebrochen worden
und Sachen schnell gepackt, weil die Familien sich das nicht gefallen lassen
wollten. Bis etwas geschehen war, das ihn vertrieben hatte. Weg aus dem wahren
Leben und hinein in diese Stadt, in der alles vorerst besser zu sein schien. Ein
Ort, wo man ihn akzeptierte und brauchte, weshalb der König ihn nicht mehr
gehen lassen wollte.
Er war letztendlich entgegen ausdrücklicher Wünsche
gegangen und wusste nun nicht, was er machen sollte. Er kannte nichts und
niemanden mehr in dieser Welt, außer ihr,
doch sie zu finden könnte ein wenig
Zeit in Anspruch nehmen. Bis dahin galt es über die Runden zu kommen und
wahrscheinlich auch den Kontakt zu anderen vorerst zu meiden. Diese Welt mochte
der von damals sehr ähnlich sehen, doch er wusste nicht einmal, in welchem
Königreich er sich gerade befand, noch wer dessen Herrscher war. Für ihn waren
diese Dinge nicht mehr von Belang, für andere vielleicht schon. Also würde er
sich abseits der Wege aufhalten und Städte nur betreten, wenn diese laut und
voll waren, damit er in der Masse untergehen konnte, ohne wie ein fauler Apfel
sofort aufzufallen.
Vorerst blieb er ohnehin in diesem lichten Wäldchen, um
seine neue Freiheit zu genießen. Endlich sah er wieder frisches Grün, hörte
Vögel, erspähte andere Waldtiere. Seine Lunge rasselte. Wenn es ihm nur
vergönnt sein sollte, einige Stunden aus seinem selbst gewählten Gefängnis zu
entkommen, ehe er starb, dann war es das wert gewesen. Im anderen Reich würde
er ihr schon wieder begegnen.
Bei dieser Erkenntnis lachte er kurz auf, hustete dann.
Die Angst vor dem Tod war es doch erst gewesen, die ihn in die Wüste getrieben und
dafür gesorgt hatte, dass er nicht mehr dazu fähig gewesen war zu altern. Die
Ewigkeit war einst verlockend gewesen. Doch in dieser statt hatte er nicht mehr
richtig gelebt, sondern nur noch existiert. Zu viele derer, denen er auf die
Welt geholfen hatte, waren in seinen Armen an Altersschwäche gestorben; Freunde
mit den Jahren vergangen. Das nicht an sich heranzulassen, war ihm nie richtig
gelungen.
Er stieß sich vom Baum ab und setzte seinen Weg mit
unsicheren Schritten fort. Alles drehte sich. Etwas Feuchtes fiel in seinen
Nacken, doch er brauchte einen Augenblick, ehe er erkannte, was es war. Sein
Blick ging hinauf zum Himmel, der sich zusehends verdunkelte. Aus den Wolken,
die wohl versuchten die Sonne auszusperren, fielen weitere Tropfen. Regen.
Richtiger, echter Regen!
Er sank auf die Knie und konnte seinen Blick nicht mehr
von dem abwenden, was über ihm geschah. Der Himmel wurde grauer, immer grauer
und der Regen wurde so stark, dass er schon bald die ersten Tropfen wegblinzeln
musste, die ihm in die Augen fielen. Wie lange war es her, dass nicht er es
gewesen war, der Regen herbeigeführt hatte? Als Wassermagier war es ihm
zugefallen, so gelegentlich die Wege zu befeuchten und für Regenbögen zu
sorgen. Das Wasser war für die Wüstenstadt nötig gewesen, hatte jedoch auch der
Belustigung gedient. Nur echt war dieses Phänomen nicht gewesen.
Nun jedoch mischten sich unter die Tropfen, die seine
Wangen hinunterliefen auch Tränen. Er hätte damals bleiben sollen, nicht in die
Wüste gehen sollen. Sein Leben wäre nicht einfach gewesen, da man ihm niemals
verziehen hätte, von wem er abstammte. Vielleicht wäre er wegen seiner Herkunft
wirklich ermordet worden. Doch bis dahin hätte er nicht auf die Natur
verzichten müssen, auf Bäume und Tiere und richtiges Wetter.
„Mein Herr, seid Ihr wohlauf?“
Hinter ihm stand eine junge Frau in einem langen
pfirsichfarbenen Gewand, das sie als Geistliche auszeichnete. Ihr blondes Haar
trug sie für eine Frau ungewöhnlich kurz und ihre hellen Augen wirkten besorgt.
Doch weder das noch das Korb in ihrer Hand ließen ihn bei ihrem Anblick stumm
innehalten. Es war ihre Aura. Vertraut, fragil, freundlich, warm. Fast wie sie.
„Mein Herr?“, wiederholte die Geistliche ein wenig
lauter, um gegen das Prasseln des Regens anzukommen, das weiter zunahm.
„Wie bitte?“
Sie ging einen Schritt auf ihn zu. „Geht es Euch gut?
Kann ich Euch helfen?“
„Es ging mir seit Jahren nicht besser, danke der
Nachfrage.“
Sie wirkte irritiert, enthielt sich jedoch eines
Kommentars dazu. „Kann ich Euch trotzdem dazu einladen, ein wenig Schutz vor
dem Regen zu genießen?“
„Aber ich mag ihn. Den Regen.“
Einen Moment sagte sie nicht, in dem sie ihn genauer in
Augenschein nahm. Es gab ihm Zeit das Gefühl des Wassers auf der Haut zu spüren,
was die Kräfte in ihm auf eine Weise ansprach, die ihm gefehlt hatte. Die Wüste
war kein Ort für einen Wassermagier, das begann er nun zu begreifen. Umgeben
von Wasser fühlte er sich trotz der Schmerzen in der Lunge wieder so lebendig
wie früher. Er spürte sogar einen lange vergessenen Impuls durch seinen Körper
ziehen, als er sah wie die Geistliche begann zu lächeln, sodass ihr gesamtes
Gesicht erhellt wurde. Ein hübsches Ding, dieses Mädchen. In seiner Jugend hätte
er sicher begonnen ihr den Hof zu machen, bevor er weiter auf Freiersfüßen
durch die Lande gezogen wäre.
„Das verstehe ich gut, weil Regen wirklich sehr schön
ist. Die Göttin hat Sorge getragen, dass wir etwas so Sinnvolles auch in seiner
ganzen Schönheit anerkennen können. Doch bei all dem Genuss nähert sich dennoch
ein Sturm. Mir wäre wohler Euch dabei im Schutz eines Gebäudes zu wissen.“
Er zögerte. Der Gedanke sich in die Hände von Geistlichen
zu begeben, behagte ihm nicht, zu lange hatte er die Worte Der Schrift bereits
nicht mehr gelesen. In der Wüstenstadt hatte es zwar Abschriften gegeben, doch
diese hatten ihn nicht interessiert. Der Glaube war ihm verlorengegangen,
obwohl er genau wusste, dass es die Göttin wirklich gab.
„Was werden Eure Schwestern sagen, wenn Ihr mit einem Mann
zurückkommt?“
Sie legte ein geheimnisvolles Lächeln auf. „Dass jede
gute Tat die Göttin erfreut.“
Er kniff die Augen ein wenig zusammen, um sie genauer in Augenschein
nehmen zu können, als etwas an seinen Sinnen kitzelte. „Ihr fühlt die Magie in
mir, nicht wahr?“
„Sie zog mich zu Euch, doch sie begann erst mit dem
Regen. Als hättet ihr gelernt, Eure Spur zu verdecken, und dann einen solchen
Zuwachs an Kraft erfahren, dass Eure alte Gewohnheit das nicht mehr zu deckeln
vermag. Allein das Ausmaß Eurer Magie…“, sie kam näher und reichte ihm die
Hand, „bitte kommt mit mir. Bei uns seid Ihr vor allem geschützt, was Euch erst
dazu brachte, Eure wahre Macht zu verschleiern.“
„Ihr wollt mich nicht missionieren?“
Sie schüttelte den Kopf. „Glaubt Ihr nicht an Die
Schrift, ist das allein Eure Entscheidung.“
Er konnte den Widerwillen erkennen, der hinter diesen
Worten steckte, was sie aus irgendeinem Grund sympathischer machte. Schnell
griff er ihre Hand und zog sich daran hoch. Auf ihren Armen lag eine Gänsehaut.
Seine Lunge schrie auf, ließ ihn erst mal atemlos.
„Ich denke“, sagte er und schnappte nach Luft, „ich werde
mit Euch kommen, sonst erkälte ich mich noch hier draußen.“
Wieder lag Besorgnis in ihrem Blick, die sie nicht zu
überspielen versuchte. Vielleicht weil er so um Atem rang. Vielleicht weil die
Haut von Wassermagiern ungewöhnlich kalt war.
„Nun, es gibt bei uns genug Tee, der Euch von innen
aufwärmen kann“, erklärte sie im Plauderton, „Ist das nicht genug, finden wir
sicher noch etwas anderes, das uns da hilft. In der Küche finden wir sicher
auch eine nahrhafte Suppe. Und wenn Euch dann noch von außen kalt ist, gibt es Mittel
und Wege das zu ändern.“
Er schaute fragend zu ihr hinunter, ehe er ihr wortlos
folgte. Im Laufe des Gesprächs hatte sich ihr nun vollständig durchnässtes
Gewand wie eine zweite Haut an sie geschmiegt. Mit einer Hand strich er nasse Haare
aus seiner Stirn. So viele Mädchen waren ihm vor so langer Zeit verfallen – und
er hatte jeden Moment genossen. Wenn diese Geistliche nun Gedanken hatte, die
in diese Richtung gingen, so unwahrscheinlich das auch schien, wäre er dem zu
wenig abgeneigt. Und wenn nicht, dann war der Tee sicher vorzüglich.
Aww, du zauberst mit deinen Worten immer wieder so wundervolle Bilder in meinem Kopf. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie du solche wunderschönen Kurzgeschichten schreiben kannst. Deine Charaktere wirken in wenigen Zeilen immer so lebendig und interessant, dass man alles über sie wissen möchte.
AntwortenLöschenIch kann deine Geschichten ganz deutlich in einen schönen Einband gehüllt im Bücherregal der Buchhandlung um die Ecke sehen. Irgendwann, Fräulein Lawrence, da bin ich sicher, werde ich ein Buch von dir in Händen halten ♥
;___; Es ist so schön, deine Kommentare zu lesen. Da weiß ich wieder, warum ich hier überhaupt poste.
LöschenIch bin am besten mit Charakteren, die ich schon kenne - und den Herrn hier habe ich seit 2010 im Repertoire, wollte seinen Namen aber nicht einbringen (das war eine Herausforderung!).
Wenn ich nicht so eine faule Person wäre, die sich nichts traut, könnte das eventuell sogar passieren. *lach* Wir werden sehen, was die Zukunft bringt.